Freitag, 22. März 2013

Kein Mensch ist wirklich gesund, es sind nur noch nicht alle genügend untersucht.

Neue Diagnosen schaffen (endlich) neue psychische Leiden! 


Millionen Menschen, die gesund sind oder kleine Ticks und Zipperlein haben, könnten durch eine Neuauflage eines Krankheitenkatalogs zu psychisch Kranken werden, etwa Nägelbeißer oder Frauen mit wenig Lust auf Sex. Aber auch wer mehr als  zwei Monate nach einem Todesfall noch trauert, ist jetzt depressiv! Damit die Psychobranche und die Pharmaindustrie auch morgen noch voll zu tun hat. 

Hintergrund: Allen Frances, emeritierter Psychologe der Duke University befürchtet: „Wenn jetzt die neue Diagnose kommt, bringt sie das Risiko, dass ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung als psychisch krank gelten wird.“ Die Diagnose heißt „somatic symptom disorder“, und kommen wird sie in der Bibel der Psychiatrie, dem „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM) der American Psychiatric Association APA. Das kommt auch in den deutschsprachigen Raum!

Dieses Handbuch für Diagnosen – und Definitionen – psychischer Leiden wurde 1917 erstmals erarbeitet, vom Vorläufer der APA, es umfasste 22 Krankheitsbilder. Die erste Fassung kam 1952, sie wird alle zwanzig Jahre überarbeitet. In der vierten Fassung aus dem Jahr 1994 waren es 297 Krankheitsbilder. Frances war Chef einer APA-Arbeitsgruppe, sie prüfte 94 Anträge auf neue Diagnosen/Leiden, ganze drei ließ sie durch: Asperger (eine mildere Form des Autismus), ADHA (auf Deutsch ADHS, „Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom“) und „childhood bipolar disorder“ (Letzteres früher: manisch-depressiv).

Daraufhin schnellten natürlich die Zahlen hoch: „Bei Asperger hatten wir erwartet, dass drei oder vier Prozent mehr Fälle diagnostiziert werden“, berichtet Frances: „Nie hätten wir uns träumen lassen, dass es von einem Fall auf 1000 Personen in den USA auf einen auf 88 gehen würde und auf einen auf 38 in Korea. Ähnlich war es bei der „childhood bipolar disorder“, die Fälle vervierzigfachten sich, gar nicht zu reden von der Diagnose ADHS, mit der nun weltweit Lernstörungen - Zappelphilippe pharmakologisch ruhiggestellt werden. Und das ist äußerst ungesund sie LINK - RITALIN und LINK: Psychostörung durch RITALIN 

Und: „Alles was als Diagnose in das DSM eingeht, kann auch missbraucht werden“, schließt Frances. Missbraucht, von wem? Von der Pharmaindustrie, aber auch von Ärzten, die mit der Entdeckung neuer Leiden in die Annalen eingehen wollen, zumindest in die der APA: In deren Neufassung sollen etwa chronische Nägelbeißer unter die psychisch Kranken eingereiht werden („pathological grooming habits“) = Nägelbeißen ist eher ein Zeichen für Nervosität (Etwas für Biofeedback und andere Entspannungstrainings-Methoden - LINK); wer leicht irgendwo etwas vergisst, kommt in die „leichte kognitive Störung“; und wer um einen verstorbenen geliebten Menschen länger als zwei Monate schwer trauert, schlicht trauert, wird Kandidat für eine „major depression“. In einer lieblosen Welt ist diese Diagnose die Steigerung.

Pc-Muskel - Gehirn -Sexualität (PcE-Training)
Auch verstärkte Freude am Essen wird bald als „binge eating“ und damit als Psycho anerkannt – „Fressgelage-Störung“ –, und wenn eine Frau nicht genug oder gar keine Freude am Sex hat, dann leidet sie an irgendeiner der Female Sexual Arousal and Female Orgasm Disorders (FSD). Darauf hat Tamara Kayali, Herausgeberin der Bioethics Dissertation Reviews, hingewiesen, und auf den möglichen Hintergrund auch: Nach dem Erfolg mit Viagra wandte sich die Pharmaindustrie der Hebung der weiblichen Lust zu, inzwischen gibt es für die so "erkrankten Frauen" Hoffnung, ein Nasenspray auf Testosteronbasis. (Dabei wäre ein PcE-Training, Aufbau und Stärkung des Beckenbodenmuskels sinnvoller und ohne chemische Nebenwirkungen, hierzu gibt es sogar Trainingsabende = LINK PcE-Yoga).

Mit Protest die Leitung der Arbeitsgruppe zurück gelegt
Kayali bat Frances, die Female Orgasm Disorders (FSD) in die lange Liste der Leiden aufzunehmen, die er aus DSM-5 herausreklamieren will – noch wird im Hintergrund gerungen, die Liste kommt schon im Mai 2013 –, aber die Aussichten sind gering. Frances war wieder Leiter einer Arbeitsgruppe, er hat die Funktion unter Protest zurückgelegt und versucht nun, über die Öffentlichkeit Einfluss zu nehmen, dabei thematisierte er die bisher genannten Beispiele. Ohne Erfolg. Nun hat er noch einen Vorstoß unternommen, im British Medical Journal (19.3.), dabei geht es um etwas, was alle Schleusen öffnen könnte, die eingangs erwähnte „somatic symptom disorder“, also die „somatische Symptom-Störung“.

Somatische Symptom-Störung -  psychische Erkrankung ohne Grenze.
Dysfunktionale Gedanken, Gefühle oder Verhaltensweisen ...
Diese Leiden gab es auch früher, sie hießen „somatoforme Störungen“ und betrafen das Durchschlagen von Ängsten auf das körperliche Wohlergehen. Aber nun werden die Krankheitsbilder einerseits erweitert auf „dysfunktionale Gedanken, Gefühle oder Verhaltensweisen“. Auf der anderen Seite werden die Kriterien aufgeweicht, ein zentrales entfällt: Bei „somatoformen Störungen“ mussten die Symptome „medizinisch unerklärt“ sein, d.h. Ärzte mussten für die körperlichen Symptome erst einmal körperliche Ursachen suchen. Das entfällt nun, das körperliche Unbehagen muss nur noch das Alltagsleben beeinträchtigen, mindestens sechs Monate lang, es muss zudem von hoher Angst über das Symptom begleitet sein oder generell von großer Sorge um die Gesundheit: „Eine Fehlanwendung dieser vagen Kriterien“ – englisch: catch-all criteria – „könnte Millionen Menschen falsch kennzeichnen, vor allem Frauen, die leicht als Katastrophistinnen (!!!) wahrgenommen werden, wenn sie somatische Symptome präsentieren.“

Außerdem fürchtet Frances den Zusammenbruch der ohnehin fragilen Grenze zwischen organischen und psychischen Leiden. 
Allerdings erwägt auch er nicht, dass Angst bzw. ihr somatisches Durchschlagen auch gute bzw. böse Gründe haben kann, denen nicht grundsätzlich mit Therapien begegnet werden muss, sondern zuvor mit Handeln, Flucht etwa oder Gegenwehr. Aber davon abgesehen erinnert Frances an Thomas Szasz, einen Psychologen, der mit Kritik an seiner Zunft nicht zurückhaltend war und 1997 einen Aufsatz publizierte: „Die Herstellung des Irrsinns. Eine vergleichende Studie der Inquisition und der Bewegung für geistige Gesundheit“. Daraus zitiert Frances: „Wenn ein Arzt in alten Zeiten keine natürliche Krankheit finden konnte, erwartete man, dass er Hexerei fand. Wenn er heute keine findet, erwartet man, dass er eine psychische Krankheit diagnostiziert.“
Nun erwarten uns nicht nur Finanzkatastrophen (wer die länger negativ sieht ist sicher depressiv) sondern auch ENDLICH eine Fülle von neuen psychischen Erkrankungen, die es zu behandeln gilt. Heute noch gesund, morgen schon ein Fall für die Pharmaindustrie.
Quellen: u.a. British Medical Journal (19.3.)
-Pr-

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Allen Francis - Was ist noch normal?




“Was ist heute noch normal?” Der amerikanische Psychiater Allen Frances versucht im Gespräch, 
Antworten auf diese Frage zu geben.