Dienstag, 30. Oktober 2012

Die Evolution könnte den Placebo-Effekt erklären (neues wissenschaftliches Modell)

Auf den ersten Blick macht der Placebo-Effekt keinen verständlichen Sinn.
Der Placebo-Effekt zeigt, dass Menschen in der Lage sind, sich ohne fremde Hilfe zu heilen - warum wartet der Organismus mit der Selbstheilung bis eine Placebopille "Zuckerpille" gegeben wird?
Der Placebo-Effekt belegt, dass der Erkrankte selbst in der Lage ist, sich gänzlich ohne Medikamente zu heilen.

Wissenschaftler fragen sich: Warum beginnt der Heilungsprozess also erst mit Einnahme der Placebopille als Schlüsselhandlung und warum haben wir als Spezies nicht gleich die Fähigkeit entwickelt, uns umgehend und ohne externe Stimulation selbst zu heilen?

Unser Immunsystem besitzt einen Ein- und Ausschalter
Anhand einer aktuellen Studie (mittels Computer-Modell) kommen britische Biologen nun zu der Vermutung, dass es für den Placebo-Effekt eine evolutionäre Erklärung gibt und dass unser Immunsystem einen Ein- und Ausschalter hat, der von unserem Verstand kontrolliert wird um körpereigene Ressourcen zu schonen. "Unsere Theorie beginnt schon mit der Beobachtung, dass sich ein dem Placebo ähnlicher Effekt auch schon bei viele Tieren beobachten lässt", erläutert Peter Trimmer von der University of Bristol.

In einem mathematischen Computer-Modell hat das Team um Trimmer den Placebo-Effekt nachgestellt und damit Aufwand und Nutzen einer Immunreaktion angesichts eines Gesundheitsproblems untersucht.

Das übernaschende Ergebnis: Ein stets mit voller Kraft laufendes Immunsystem mit entsprechend direkten und wirkungsvollen Immunreaktionen auf Krankheiten wäre für den Körper derart aufwendig, dass es den effektiven Energiehaushalt von Tieren und Menschen gefährden könnte. Ist eine Infektion also nicht tödlich, so macht es biochemisch Sinn, auf eine externe Stimulierung - in diesem Fall die Einnahme einer Pille (oder eines anderen den Placebo-Effekt auslösenden Input) - zu warten, bevor die notwendige Reaktion in Gang gebracht wird.

Während die Idee selbst bereits vor rund zehn Jahren von dem Londoner Psychologen Nicholas Humphrey formuliert wurde, liegen mit dem mathematischen Computermodell des Teams um Trimmer nun erstmals Beweise für diese Theorie vor. Humphrey gründete seine Theorie auf der Beobachtung, dass sibirische Hamster entsprechende Immunreaktionen angesichts einer nicht tödlichen Infektion vornehmlich mit Wiedererscheinen der Frühlingssonne in Gang brachten - eine Reaktion die auch in Laborversuchen reproduziert werden könnte. Der Psychologe vermutete, dass dies in der Aussicht auf eine erfolgreiche Nahrungssuche und somit auf einen Ausgleich für die durch die Immunreaktion verbrauchten Ressourcen, begründet liegen könnte.

Laut Humphrey reagieren wir also unterbewusst  auf Behandlung, selbst wenn diese nur vorgetäuscht wird, wenn wir davon ausgehen, dass sie eine Infektion lindert und so eine erfolgreiche und schnelle Immunreaktion in Aussicht steht, ohne die Energieressourcen des Körpers zu stark zu beanspruchen.

Die Ergebnisse der Modellanalyse belegen also einen evolutionären Vorteil für ein Immunsystem, das bei unsicheren Umweltbedingungen (etwa der Möglichkeit von Hunger) von äußeren (Umwelt)Faktoren ein- und ausgeschaltet wird.

Gegenüber dem "New Scientist" (newscientist.com) zeigt sich Paul Enck von der Universität Tübingen zwar von der Idee selbst angetan, verweist jedoch kritisch auf den Umstand, dass es eine Vielzahl von Placebo-Reaktionen gibt, die von der jeweiligen Krankheit abhängig sind. Vor diesem Hintergrund sei es unwahrscheinlich, dass diese durch einen einzigen Mechanismus erklärt werden können.

IPN/Egg. Anm.: Doch welchen Grund hat dann der NOCEBO-Effekt (der negative Bruder des Placeboeffekts)? Hier scheint noch nicht alles geklärt zu sein!

Quelle: New Scientist, Peter Trimmer, Paul Enck
Direktlink: http://www.newscientist.com/article/mg21528812.300-evolution-could-explain-the-placebo-effect.html