Eine neue Untersuchung zeigt: Menschen können unbewusst Sätze erfassen und mehrere Subtraktionen nacheinander lösen. Das Gehirn verarbeitet Neues, Widersprüchliches oder Bedrohliches immer zuerst – auch ohne Bewusstsein.
Lesen und Rechnen sind Errungenschaften der menschlichen Kulturgeschichte. Weil für beide Fähigkeiten eine große Portion Abstraktionsvermögen nötig ist, waren Experten bisher davon ausgegangen, dass komplexere mathematische Berechnungen und das Verstehen von Sprachbedeutungen zum größten Teil dem Menschen vorbehalten sind – und Bewusstsein erfordern (???).
Eine jetzt im Fachblatt "PNAS" veröffentlichte Studie israelischer Wissenschaftler legt aber nahe, dass wir auch ganz unbewusst, also ohne gezielte Aufmerksamkeit, rechnen und lesen können. Die Forscher um den Psychologen Asael Y. Sklar von der Hebrew University testeten dies mit einer Reihe von Experimenten.
Frühere Studien hatten bereits ergeben, dass einzelne Wörter oder Zahlen unbewusst registriert und verarbeitet werden können. Doch das allein beweist noch lange nicht, dass Menschen auch unbewusst schlussfolgern können: also eine Reihe von Rechenoperationen durchführen oder mehrere Wörter in ihrer gemeinsamen Bedeutung richtig zu verstehen.
Wir besitzen eine unbewusste Sprachverarbeitung
Die Wissenschaftler nutzten raffinierte Methoden, um dieser Frage auf die Schliche zu kommen. Zunächst widmeten sie sich der unbewussten Sprachverarbeitung von mehreren Wörtern beim Lesen.
Die sogenannte Continuous Flash Suppression ist eine Technik, mit deren Hilfe man Reize länger unbewusst halten kann, als das normalerweise möglich wäre.
Dazu bekommen die Versuchsteilnehmer eine Art Brille aufgesetzt, die jedem Auge etwas anderes zeigt. Ein Auge sieht eine schnelle Abfolge von Bildern; Farben oder Formen, das andere dagegen die Information, die man unbewusst halten will – in diesem Fall also die Testwörter.
Gehirn: "Ich habe Kaffee gebügelt"
Das zweite Auge sieht die im Gegensatz dazu statischen Wörter zwar, doch weil das Gehirn sie in der Verarbeitung benachteiligt, dauert es eine ganze Weile, bis sie die Bewusstseinsschwelle erreicht haben – und der Proband sich darüber klar wird, dass er Wörter sieht, und welche das sind.
Im Versuch sollten die Studienteilnehmer nun eine solche Brille aufsetzen und am Computer eine Taste drücken, sobald sie ein Wort bewusst erkennen konnten. In einem ersten Durchlauf zeigten die Forscher den Probanden dann auf einem Auge bunte, sich verändernde Formen und Farben. Dem anderen Auge wurden jeweils sprachliche Ausdrücke gezeigt, die aus mehreren Worten bestanden.
Die Hälfte war kongruent: Die Wörter ergaben zusammengenommen einen Sinn, etwa: "Ich habe Kaffee gekocht." Die andere Hälfte aber war inkongruent, wie: "Ich habe Kaffee gebügelt." Psychologen wissen, dass widersprüchliche Informationen schneller ins Bewusstsein springen als solche, die unmittelbar Sinn ergeben.
Unterschied zwischen positiver und negativer Assoziation
Sollten die Wörter also tatsächlich unbewusst gelesen werden, so die Annahme von Sklar und seinem Team, dann müssten die Teilnehmer die inkongruenten Sätze schneller bewusst lesen können – und genauso war es. Das funktionierte ebenfalls, wenn den Probanden je zwei Wörter gezeigt wurden, die für sich genommen neutral klangen, zusammen aber entweder positive ("Sandkiste") oder negative ("Schwarzauge") Assoziationen auslösten. Denn ebenso wie Widersprüchliches werden negative oder potenziell bedrohliche Informationen bevorzugt verarbeitet. Und tatsächlich: Sahen die Studienteilnehmer negative Wörter, konnten sie diese schneller lesen als jene mit positiven Wörtern.
Um das gleiche Prinzip beim Rechnen nachzuweisen, griffen die Forscher ebenfalls zu einem Trick: Sie zeigten Probanden Gleichungen wie "9-3-4" unterhalb ihrer Bewusstseinsschwelle. Anschließend gab der Bildschirm deutlich sichtbar eine Zahl aus – entweder das Ergebnis der zuvor präsentierten Gleichung oder eine willkürliche andere Zahl. Handelte es sich um das richtige Ergebnis der Gleichung, erkannten die Teilnehmer die Zahl deutlich schneller.
Einmal erlernt - dann eine automatisierte Fähigkeiten
"Viele komplexe Fähigkeiten funktionieren, anders als gedacht, auch völlig unbewusst", schlussfolgern die Forscher. Die Frage, wie genau das möglich ist, können sie derzeit aber noch nicht beantworten. Denkbar ist, dass Lesen und Rechnen wie andere einmal erlernte und zur Routine gewordene Fähigkeiten sich nach und nach automatisieren und immer weniger Bewusstsein erfordern.
Wie Studien aus der Gedächtnispsychologie zeigen, werden zunächst recht komplizierte Tätigkeiten, etwa Fahrrad- oder Autofahren, mit zunehmender Erfahrung nach und nach nicht mehr als einzelne Handlungen, sondern als abgeschlossene Episode, also als Prozess im Gehirn gespeichert. Damit einher geht, dass die Teilschritte weitaus weniger oder sogar gar keine bewusste Aufmerksamkeit mehr erfordern.
Eine andere Erklärung wäre, dass Lesen und Rechnen nicht ganz so ausschließlich erlernte menschliche Fähigkeiten sind, wie wir es gern sähen. Denn auch einige Menschenaffen können kopfrechnen und simple Wörter oder Symbole erkennen, wenn es sich um nicht allzu schwere Beispiele handelt. Und auch Säuglinge bemerken bereits recht früh, wenn Mengen zahlenmäßig unterschiedlich groß sind.
Keine spezialisierte Hirnregion nachgewiesen
Dafür, dass ein Grundverständnis von Mathematik und Sprache oder kommunikativen Elementen bei höher entwickelten Tieren veranlagt ist, sprechen auch andere Studien (AFFEN KÖNNEN AUCH LESEN - WISSENSCHAFT). So konnten Forscher bei der Suche nach den zugrunde liegenden neuronalen Prozessen des Rechnens zeigen, dass es beim Menschen keine auf Mathematik spezialisierte Gehirnregion gibt. Vielmehr werden ganz verschiedene Areale gleichzeitig benutzt, zum Beispiel auch jene, die für die Sprachverarbeitung zuständig sind.
Das konnten Wissenschaftler zeigen, die mithilfe bildgebender Verfahren Männern und Frauen beim Addieren und Multiplizieren zusahen. Das gesamte Netzwerk der Nervenzellen, die daran beteiligt sind, ist zwar bislang noch nicht bekannt, es scheint aber, wie Hirnforscher aus den USA und China zeigen konnten, dass es von der jeweiligen Sprache abhängt, welche Hirnregionen bemüht werden.
So unterschied sich bei Versuchsteilnehmern mit der Muttersprache Englisch die Gehirnaktivität beim Rechnen deutlich von jenen, deren Muttersprache Chinesisch war.
Quelle: PNAS-Org,
LINK: http://www.pnas.org/content/early/2012/11/07/1211645109.abstract?sid=3ffc33bf-6ed5-44dc-ada9-c49530780e6a
PDF dazu: http://scottbarrykaufman.com/wp-content/uploads/2012/11/Sklar-et-al.-2012.pdf
Bildquellen: Fotolia u. IPN
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