Mittwoch, 8. Mai 2019

Auch ein perfektes Gedächtnis kann leicht in die Irre geführt werden

Wir Menschen können vieles, nur nicht uns ganz genau an Vergangenes erinnern.
Da lässt sich fragen: Wie genau sind Zeugenaussagen vor Gericht, kann ein "guter" Verteidiger oder ein "guter" Ankläger den Zeugen mit seinen Fragen manipulieren?

Zeugenaussagen sind sehr oft falsch!
Unsere Erinnerung lässt sich verändern, mit ganz simplen Methoden. Und das ist nicht nur bei Normalvergesslichen so, sondern auch bei Menschen mit unerbittlichem, genauen Gedächtnis. Mit dem menschlichen Gedächtnis ist das so eine Sache, die meisten von uns wissen es: An viele Dinge erinnert man sich nur dunkel (halb, fehlerhaft), an andere gar nicht mehr, dafür tauchen im Gegenzug Dinge auf, die man überhaupt nie erlebt hat und wir halten das für die Wirklichkeit. In den meistens Fällen ist das nicht weiter tragisch, doch es kann tragisch werden, wenn Opfer oder Zeugen von Verbrechen jemanden z. B. fälschlich als Täter identifizieren.

Stress und Angst stören unser Gedächtnis
Geschehnisse wie Unfallabläufe werden oft falsch wiedergeben. So war es etwa im September 1984 in einem Haus in Kalifornien: Ein dunkelhäutiger Eindringling überfiel eine schlafende weiße Frau und wollte sie vergewaltigen, andere Hausbewohner wurden darauf aufmerksam, der Mann flüchtete. Die Frau beschrieb ihn detailliert: Er war schwarz, soundso groß, alt und schwer, er trug eine blaue Baseballkappe.

Pech: So ein Mann stand nicht weit weg neben seinem Auto auf der Straße, er beteuerte, er habe eine Panne, man nahm ihn fest, er kam vor Gericht. Aber Dr. Elizabeth Loftus, Psychologin der University of California, Irvine, bekam ihn frei: Sie erklärte als Sachverständige, wie Angst und Stress (beides führt zur Überaktivierung der Amygdala) die Erinnerung verzerren können, und wie schwer es ist, jemanden mit anderer Hautfarbe zu identifizieren. ...

Das fehlerfreie Gedächtnis gibt es NICHT!
Auch die Frage steuert die Antwort - die manipulierte Erinnerung. Und wie leicht es ist, Erinnerungen zu beeinflussen, schon alleine durch die entsprechende Fragestellung, damit hat Loftus 1974 begonnen: Sie zeigte Testpersonen in einem Film einen Autozusammenstoß und bat sie, die Geschwindigkeit des einen Wagens abzuschätzen: Wie rasch war er, als er den anderen traf („hit“)? Das war die eine Variante, in der zweiten zerstörte („smashed“) ein Wagen den anderen. In der dritten hatten sie Kontakt. Das brachte starke Unterschiede bei der geschätzten Geschwindigkeit, „smash“ trieb die Werte nach oben, „contact“ milderte sie, „hit“ lag in der Mitte. Und bei „smash“ erinnerten sich die Augenzeugen auch an zersplittertes Glas. Von dem war im Film aber gar nichts zu sehen. Seitdem ist Dr. Loftus an der Front, bei US-Gericht und in der Forschung. Unumstritten ist sie nicht, aber im Vorjahr konnte sie es als ihren Erfolg verbuchen, dass das Höchstgericht von New Jersey anordnete, Geschworene zu belehren, wie wenig dem Gedächtnis zu trauen ist. In Deutschland und Österreich gibt es leider keine Dr. Loftus, dadurch können immer noch wissentlich oder unwissentlich Verteidiger und Ankläger wie auch Richter die Antworten von Zeugen entsprechend manipulieren bzw. verfälschen.

Vieles wird vergessen!
Auch Menschen mit "unerbittlichem Gedächtnis" verändern ihr Gedächtnis
Hintergrund: Die meisten von uns haben Probleme mit dem Erinnern, es gibt auch Menschen, die das haben, was Jorge Luis Borges das „unerbittliche Gedächtnis“ genannt hat, eine fotografisch getreue Erinnerung an jedes Detail jedes Lebenstags. Ob sie darunter so leiden wie in Borges' Imagination, ist unklar. In jedem Fall melden sie sich in den USA in großen Zahlen, seit das Phänomen des "Supergedächtnis" – es heißt „highly superior autobiographical memory“, HSAM, auf Deutsch klingt es eher nach einer Krankheit: hyperthymestisches Syndrom – bzw. ein damit Bedachter in einer Fernsehshow gezeigt wurde. Und 172 von diesen Menschen wurden nun von Dr. Loftus und ihrem Mitarbeiter Dr. Lawrence Pathitis ins Labor eingeladen. Zuerst kam ein allgemeiner Gedächtnistest, 30 der Kandidaten hatten wirklich HSAM, für sie kamen weitere Tests. In einem zeigt man ihnen auf einem PC-Schirm einige Wörter, die um ein Thema kreisten – etwa um das Schlafen: „Bett“, „rasten“ etc. –, nur das zentrale Wort selbst war nicht dabei: „schlafen“.
Aber in der Erinnerung taucht es häufig auf, nämlich bei 70 Prozent der normal Vergesslichen. Und bei exakt so viel derer, mit dem Supergedächtnis (HSAM).

Test: Etwas gesehen haben, was es nie zu sehen gab!
In einem zweiten Test schnitten die Personen mit dem Supergedächtnis sogar schlechter ab: Diesmal wurde eine Fotoserie von einem Verbrechen gezeigt, (ein Mann beraubt auf den Foto eine Frau), und eine Dreiviertelstunde später erhielten die Testpersonen einen Text zu lesen, in dem der gleiche Vorfall beschrieben war. Aber in sechs Details wich die Beschreibung von den Bildern ab. Und jene Personen mit HSAM (Supergedächtnis) erinnerten sich bei der anschließenden Befragung, was sie denn auf den Bildern gesehen hätten, viel häufiger falsch als die Personen mit Normalgedächtnis, denn die HSAM-Personen erinnern sich an das Gelesene besser, als an das bildlich gesehene! (Gelesenes hat in vielen Fällen eine höhere Priorität als Bilder, das Gelesene wird auch schneller ins Unbewusste verbannt. Wir können nicht nicht lesen: Z. B.: "Lesen Sie bitte nicht diesen Text" das ist unmöglich.)
Resumé: Niemand ist immun gegen eine Verfälschung der Erinnerung“, schließt Dr. Pathitis.
Quelle: Nature, 500, S.268
---   ---   ---

Anm. IPN-Forschung: Diese Forschungsergebnisse sollte man immer bedenken, in der Familie, in der Partnerschaft, im Berufsalltag. Viele glauben, dass der andere lügt. Doch wir sind alle vergesslich, wir verändern im Gehirn die Erinnerungen. Dazu kommt, dass wir die Wirklichkeit (Realität) zumeist nur bruchstückhaft wahrnehmen.