Joe Tiralosi ist seit mehr als 4.500 Herzdruckmassagestößen tot.
Seit 47 Minuten zeigen die Monitore im Notfallraum des New York Presbyterian Hospital nun eine Nulllinie an. Die Ärzte wissen: Bereits 30 Sekunden nach einem Herzstillstand stellt das Gehirn aufgrund des Sauerstoffmangels in der Regel alle Funktionen ein. Spätestens zehn Minuten danach kommt es für gewöhnlich zu irreversiblen Hirnschäden. Der Mann auf dem OP-Tisch hat diese Grenze bereits vor 37 Minuten überschritten. Und doch geben ihn die Notfallmediziner nicht auf. Exakt 47 Minuten und 20 Sekunden nach Tiralosis Herzstillstand ertönt plötzlich ein lautes Piepen, und die Nulllinie auf dem Monitor wird von einem starken Ausschlag nach oben abgelöst.
Sollte, bzw. muss die Geschichte des Sterbens neu geschrieben werden?
Drei Wochen später verlässt Joe Tiralosi vollständig genesen das Krankenhaus. „Ein medizinisches Wunder“ heißt es in den Medien. Für den weltweit führenden Nahtodforscher und Intensivmediziner Sam Parnia zeigt dieser Fall dagegen einmal mehr: „Der Tod ist kein Moment, sondern ein Prozess. Er tritt langsam nach dem Herzstillstand ein, breitet sich im Körper aus – und kann sogar noch Stunden danach unterbrochen werden.“ Aber was genau passiert in dieser Übergangsphase zwischen Leben und Tod? Wie fühlt es sich an, zu sterben? Und wie lange überlebt unser Unterbewusstsein den Tod? ...
Genau diese Fragen hat sich auch Sam Parnia gestellt.
Dr. Med. Sam Parnia startete daher die umfangreichste und aufwendigste Echtfallstudie über Wiederbelebung in der Geschichte der Medizin: die sogenannten AWARE-Study (AWAreness during REsuscitation, auf Deutsch: Bewusstsein während der Wiederbelebung). Das, was Parnia dabei herausgefunden hat, ist nicht weniger als eine wissenschaftliche Sensation. Der Mediziner ist jedenfalls überzeugt: Die Geschichte des Sterbens muss neu geschrieben werden.
Insgesamt lief die internationale AWARE-Studie über vier Jahre. Sie umfasst 2.060 Patienten, die einen Herzstillstand in einem von 15 Krankenhäusern in Großbritannien, in den USA und in Australien erlitten. 330 Patienten überlebten. Mit 140 von ihnen führten die Forscher danach Interviews nach streng wissenschaftlichen Standards. Das Ergebnis: 55 Patienten gaben an, sich an Erlebnisse und Gedanken erinnern zu können, die sie während der Zeit ihres Herzstillstands und ihrer Wiederbelebung hatten. Near Death Experiences, kurz NDE, nennen Experten dieses Phänomen. Parnia zieht den Begriff Actual Death Experiences vor. Häufig kommt es bei diesem Phänomen zu außerkörperlichen Erfahrungen (auch Out-of-Body-Experiences genannt), bei denen die Betroffenen Zeugen ihrer eigenen Wiederbelebung werden.
Kann sich ein Mensch an seinen eigenen Tod erinnern?
In Parnias Studie berichten die Patienten nicht nur von grellen Lichtern, dunklen Tunneln oder anderen mysteriösen NDEs. Vielmehr sind die Erinnerungen an das eigene Sterben teilweise ganz konkret und sogar überprüfbar. So erzählt ein Patient, dass er an der Decke des Raums über seinem eigenen Körper schwebte, während unter ihm ein kahlköpfiger Mann und eine Krankenschwester an seinem Körper hantierten. Außerdem hörte er eine Computerstimme, die immer wieder befahl: „Shock the patient, shock the patient.“ Parnia glich diese Aussagen mit dem Wiederbelebungsprotokoll des Krankenhauses ab und fand heraus, dass tatsächlich ein automatisches Notfallprogramm angesprungen war, dass eine Maschine den Ärzten Anweisungen erteilt hatte und dass einer der erst nach dem Herzstillstand hinzugekommenen Mediziner kahlköpfig war. „In diesem Fall müssen sich Wahrnehmung und Bewusstsein des Sterbenden noch mindestens über drei Minuten erstreckt haben, ohne dass sein Herz schlug. Die detaillierten Erinnerungen stimmten jedenfalls exakt mit den realen Ereignissen überein“, erklärt Sam Parnia.
Tatsächlich ist es der erste wissenschaftliche Beweis dafür, dass unser Unterbewusstsein noch lange nach dem letzten Herzschlag aktiv ist. Zudem deckten Nahtodforscher der University of Michigan vor kurzem in einer anderen Studie auf, dass das Gehirn kurz nach einem Herzstillstand wesentlich aktiver ist als bisher angenommen. „Wir erwarteten bei den untersuchten sterbenden Gehirnen keinerlei Aktivität. Stattdessen blickten wir auf ein neuronales Feuerwerk“, sagt Prof. Dr. Jimo Borjigin. Das wiederum könnte laut Aussagen der Wissenschaftler auch die Nahtoderfahrungen von Parnias Patienten erklären.
Wie viele Minuten können meine Gedanken ohne Sauerstoff überleben?
Bleibt die Frage: Wenn Teile unserer Wahrnehmung weiterfunktionieren, wann ist dann ein Toter wirklich tot? 20 bis 30 Sekunden – so lange dauert es nach einem Herzstillstand im Normalfall, bis das Bewusstsein aussetzt und das Gehirn aufgrund des Sauerstoffmangels seine Aktivität einstellt. Wie aber hat dann Joe Tiralosi die mehr als 47 Minuten EKG-Nulllinie ohne Folgeschäden überlebt? Zwei Sachverhalte haben Tiralosi das Leben gerettet: die Ausdauer der Notfallmediziner und die Kälte. Wäre er in einem anderen Krankenhaus gelandet, wäre die Reanimation höchstwahrscheinlich ganz anders verlaufen.
Normalerweise geben US-amerikanische Ärzte im Schnitt nach 20 Minuten Herzdruckmassage auf. Bei Tiralosi kämpften die Mediziner des New York Presbyterian Hospital mehr als doppelt so lange um sein Leben. Durch das kontinuierliche Drücken auf das Herz hielten sie den Blutkreislauf aufrecht und zögerten so den Tod des Patienten künstlich hinaus. Das bestätigt auch Burkhard Dirks, Anästhesist und Vorstandsmitglied im Deutschen Rat für Wiederbelebung: „Solange reanimiert wird, wird Sauerstoff ins Gehirn geleitet. Man kann dabei mit etwa 20 bis 30 Prozent der normalen Gehirndurchblutung rechnen. Das reicht, um zu überleben.“
Zudem kühlten die Ärzte Tiralosis Kopf schon bei seiner Einlieferung mit Eiswürfeln auf 32 Grad Celsius herunter. Das verlangsamte den Zellverfall im Gehirn. Für Sam Parnia ist das der Schlüssel zum erfolgreichen Eingriff in den Prozess des Sterbens nach einem Herzstillstand: „Wenn Sie nichts anderes zur Hand haben, nehmen Sie eben Tiefkühlgemüse. Kühlen hilft auf jeden Fall, das Gehirn zu schützen.“ Das kann der Arzt sogar mit Zahlen belegen: So liegt die Überlebensrate von Reanimationen im Krankenhaus in den USA im Schnitt bei etwa 18 Prozent, in Großbritannien und Deutschland bei 16 Prozent.
Parnia dagegen hat es mithilfe der Kühltechnik geschafft, die Überlebenschancen im New Yorker Stony Brook Hospital, wo er arbeitet, drastisch zu erhöhen: „Als ich dort angefangen habe, lag die Rate bei 21 Prozent. Mittlerweile beträgt sie fast 40 Prozent. Und davon verlassen die meisten ohne neurologische Schäden die Klinik.“ Dennoch kann es passieren, dass selbst im Stony Brook Hospital die Notfallmediziner zu früh aufgeben. Der Grund: Sämtliche Tests zur Diagnose des Hirntods verraten den Ärzten lediglich, ob die Gehirnfunktion erloschen ist. Sie prüfen aber nicht, ob die Gehirnzellen tatsächlich abgestorben sind. „Wir wissen daher bis heute nicht, wann genau die Phase des reversiblen Todes in die des irreversiblen Todes übergeht“, sagt Sam Parnia.
Ist ein inaktives Gehirn automatisch tot?
Fassungslos blickt das Operationsteam auf die Monitore: Von einer Sekunde auf die andere steigen die Werte der Botenstoffe Dopamin und Adrenalin im Gehirn sprunghaft an – genau in dem Moment, in dem der leitende Arzt die Bauchdecke des Manns mit einem Skalpell öffnet. Unter gewöhnlichen Umständen wäre dieser Zwischenfall bei einer OP nicht weiter verwunderlich.
Das Problem: Auf dem OP-Tisch liegt ein Organspender, der von den Ärzten bereits vier Stunden zuvor für tot erklärt wurde.
Eine seltene Fehldiagnose? Nicht ganz: Tatsächlich hat eine Untersuchung des Mediziners Hans-Joachim Gramm gezeigt, dass bei zwei von 30 als hirntot diagnostizierten Organspendern die Werte der Botenstoffe im Gehirn bei der Organentnahme sprunghaft anstiegen und die Toten durchaus Lebenszeichen bei der Operation zeigten.
In einigen Ländern, etwa in der Schweiz, ist es daher gesetzlich vorgeschrieben, die Toten während der Operation unter Vollnarkose zu setzen. Eine Erklärung für die kurzfristige Wiederbelebung bestimmten Körperfunktionen gibt es bis jetzt nicht. Nur die unheimliche Vermutung, dass das Sterben länger dauert als bisher angenommen – und das Reich zwischen Leben und Tod weitaus größer ist als gedacht. Davon ist auch der Intensivmediziner Eric Baccino der Universitätsklinik Montpellier mittlerweile überzeugt: „Eine biologisch exakte Definition des Todes gibt es nicht.“
Tatsächlich können trotz des technischen Fortschritts noch längst nicht alle neuronalen Bereiche überprüft werden. Noch immer gibt es ein paar weiße Flecken in unserem Gehirn, in denen sich ein Rest Bewusstsein verstecken kann. Das bestätigt auch James Hughes vom Trinity College im amerikanischen Hartford: „Selbst wenn sich auf den Monitoren nichts mehr tut, muss dies nicht automatisch als ein Massengrab von Neuronen interpretiert werden. Durch die neuen Messverfahren der Medizin begreifen wir mehr und mehr, dass selbst jene Hirnareale, die elektronisch keinen Mucks mehr von sich geben, noch gesund sein können.“
Und dennoch: In den vergangenen zehn Jahren hat die Reanimation gewaltige Fortschritte gemacht. „Wahrscheinlich verfügen wir schon bald über injizierbare Medikamente, die den Prozess des Zelltods im Gehirn und in anderen Organen noch weiter verzögern. In 20 Jahren werden wir in der Lage sein, Menschen zu reanimieren, die schon seit zwölf oder gar 24 Stunden tot sind. Nennen Sie das Wiederauferstehung, wenn Sie wollen. Für mich ist es das Ergebnis einer wissenschaftlich ausgerichteten Wiederbelebungsmedizin“, erklärt Sam Parnia. Fälle wie der von Joe Tiralosi, der einen 47-minütigen Herzstillstand überlebt hat, würden dann nicht mehr die Ausnahme sein, sondern die Regel.
Quellen©: WdW, u.a.
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