Samstag, 4. Juni 2016

Zwei Sprachen, zwei Denkweisen - zwei Arten die Wirklichkeit zu verarbeiten

Forschung: Deutschsprachige sehen und ordnen Ereignisse anders als Englischsprachige!

Ein wichtiger Effekt: Ob wir  Englisch oder Deutsch sprechen, beeinflusst, wie wir unsere Umwelt sehen. Im Deutschen fokussieren wir uns eher auf das Ziel einer Handlung, im Englischen dagegen auf den Verlauf der Handlung selbst, wie ein neues Experiment belegt. Dieser sensationelle Effekt zeigt sich sogar bei Zweisprachigen: Sie reagieren anders, je nachdem, in welcher Sprache sie gerade denken und reden. Denn unsere Sprache spielt eine wichtige Rolle dafür, wie wir unsere Umwelt wahrnehmen: Sie hilft uns dabei, Dinge zu kategorisieren, beeinflusst aber gleichzeitig auch, wie wir dies tun.

Gibt es für eine Farbnuance kein Wort, nehmen wir diese nicht wahr! 
Wie unsere Realität von Zuordnung und Sprachlichen Denken abhängig ist
Dazu muss man wissen: Existiert beispielsweise für eine Farbnuance kein Wort, dann nehmen wir diese auch nicht bewusst als eigenen Farbton wahr! 

Sogar moralische Entscheidungen werden durch Sprache beeinflusst: Wenn wir ein moralisches Dilemma in einer Fremdsprache präsentiert bekommen, sind wir eher bereit, einen Menschen für das Gemeinwohl zu opfern als in unserer eigenen Sprache. ...

Hintergrund: Die Sache mit der Verlaufsform
Panos Athanasopoulos von der Lancaster University in England und seine Kollegen wollten nun wissen, ob wir je nach Sprache auch Alltagsszenen anders wahrnehmen. Dafür verglichen sie Deutsche, in Deutschland lebende Muttersprachler mit in Großbritannien lebenden englischen Muttersprachlern sowie zweisprachige Teilnehmer in beiden Ländern.

Denn: Im Englischen existiert eine explizite Verlaufsform des Verbs, die deutlich macht, dass etwas gerade dabei ist, zu geschehen. Meist wird durch das Anhängen der Endung "-ing" erreicht: "I was walking down the street". Im Deutschen und einigen anderen Sprachen gibt es eine solche Verbform jedoch nicht. "Deshalb neigen Sprecher dieser Sprache dazu, Endpunkte und Zeitangaben einer Handlung zu erwähnen, um die Abfolge klar zu machen", erklärt Athanasopoulos.

Mit Ziel oder ohne Ziel?
Experiment: Für ihr Experiment zeigten die Forscher 15 rein englisch- oder rein deutschsprachigen Probanden und 30 zweisprachigen Teilnehmern jeweils drei Videoclips. In einem war eine Person zu sehen, die eine Straße entlang auf ein parkendes Auto zu lief, ihre Ankunft dort war aber nicht mehr zu sehen. Ob die Person daher wirklich auf dieses Ziel zu lief, blieb im Ungewissen.

Und genau das war der wesentliche Punkt: Die Forscher wollten wissen, ob die Sprache beeinflusst, wie zielorientiert wir die Handlung eines anderen einschätzen. Deshalb sah jeder Proband zum Vergleich zwei weitere Clips. Einer zeigte eine klar zielorientierte Handlung: Eine Person lief die Straße entlang und betrat dann ein Haus. Im anderen Clip sah man eine Person, die eine Landstraße entlang lief, ohne dass ein konkretes Ziel in der Nähe zu sehen war.
Die Teilnehmer sollten nun entscheiden, ob die Szene mit dem parkenden Auto eher dem ersten oder dem zweiten Video ähnelte. Zudem sollten sie die Szene in diesem Testvideo verbal beschreiben. Bei den zweisprachigen Probanden führten die Forscher den gesamten Test inklusive aller Vorgespräche entweder auf Deutsch oder auf Englisch durch.

Die Deutschsprachigen schauen vor allem aufs Ziel
Tatsächlich zeigte sich: Je nach Sprache nahmen die Probanden die Testszene anders wahr: Deutschsprachige waren in 40 Prozent der Fälle der Meinung, die Person sei gezielt auf das parkende Auto zugelaufen. Bei den englischsprachigen Teilnehmer sahen dagegen nur 25 Prozent eine so zielgerichtete Handlung. Drei Viertel hatten einfach nur einen auf einer Straße entlanglaufenden Mann gesehen.

Noch interessant war das Ergebnis für die zweisprachigen Probanden: Denn diese reagierten je nach gerade gesprochener Sprache anders! Lief der Test in Englisch ab, reagierten sie wie englische Muttersprachler, wurde deutsch gesprochen, interpretierten sie das Gesehene ähnlich zielorientiert wie die Probanden, die nur Deutsch beherrschten (!!!).

Der zweiter Test, bei dem jeweils eine Sprache durch eine Zusatzaufgabe – lautes Zählen – abgelenkt und blockiert wurde, ergab Ähnliches. Auch hier bestimmte die Sprache, in der die Probanden den Test absolvierten, wie sie das Gesehene wahrnahmen und kategorisierten. "Sie kategorisieren die Ereignisse entsprechend den grammatikalischen Rahmenbedingungen der jeweils gesprochenen Sprache", so Athanasopoulos. (IPN-Anm.: So hat jede Sprache ihre Art die Realität zu interpretieren und dadurch wahrzunehmen!)

Jede Sprache beeinflusst die Wahrnehmung - beeinflusst die Realität
Realität ist das was ich wahrnehme
"Durch eine andere Sprache hat man auch eine andere Sicht der Welt", erklärt Athanasopoulos. Die Studie zeige, dass selbst bei alltäglichen Beobachtungen und in kurzen Zeiträumen die Sprache bestimmt, wie wir Wahrgenommenes kategorisieren. Wichtig: "Dies enthüllt, wie beeinflussbar die menschliche Wahrnehmung ist", so der Forscher.

In eine konkrete Situation übersetzt: Möchte man nach einem Raub von einem Zeugen wissen, wohin der Dieb gelaufen ist, sollte man ihn besser auf Deutsch befragen. Geht es aber darum, seinen Laufstil zu beschreiben, dann wäre Englisch vermutlich die bessere Wahl.
Sie sehen also, es ist nicht so einfach mit der persönlichen Realität und Wahrnehmung bestellt! 
Quelle: Psychological Science, 2015; doi: 10.1177/0956797614567509/u.a.
Link: http://pss.sagepub.com/content/early/2015/03/06/0956797614567509

1 Institut für Sprachwissenschaft und Englische Sprache, Lancaster University
2 Zentrum für Forschung zur Zweisprachigkeit, Universität Stockholm
3 Department of Psychology, University of Chester
4 School of Education, Kommunikation und Sprachwissenschaften, Universität Newcastle
5 Institut für Psychologie, Otto-von-Guericke-Universität
6 Department of Speech & Language Pathology, Newcastle University
7 School of Psychology, Bangor University
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